Wörterbuch des Krieges
Ein Projekt von multitude e.V. und Unfriendly Takeover
Juni 2006 - Februar 2007
"Begriffe erschaffen heißt zumindest, etwas tun."
(Deleuze/Guattari)
Das WÖRTERBUCH DES KRIEGES ist eine kollaborative Plattform zur Herstellung von 100 Begriffen zum Thema Krieg, die in vier zweitätigen Ausgaben in Frankfurt, München, Graz und Berlin mit jeweils 25 Beiträgen von Wissenschaftlern, Künstlern, Theoretikern und Praktikern gebildet und präsentiert werden. Als Vorträge, Performances, Filme, Slideshows, Lesungen, Konzerte in streng alphabetischer Reihenfolge als Marathon-Diskurs.
Mit dem WÖRTERBUCH DES KRIEGES werden Schlüsselbegriffe geschaffen, die in den aktuellen Auseinandersetzungen um Krieg entweder bereits eine bedeutende Rolle spielen, bislang vernachlässigt wurden oder erst kreiert werden müssen.
Es geht um eine Streitkunst, die ihre Auseinandersetzung mit einer Wirklichkeit sucht, die davon geprägt ist, Machtverhältnisse zu verschleiern je mehr über Krieg und Frieden geredet wird. Und darum herauszufinden, inwieweit Krieg tatsächlich als "Analysator von Machtverhältnissen" (Foucault) taugen kann, die die gegenwärtigen Umbrüche ausmachen.
Das juridische Modell der Souveränität jedenfalls scheint ausgedient zu haben: Krieg als bewaffnete Auseinandersetzung zwischen souveränen (National-)Staaten gehört der Vergangenheit an. Stattdessen heißt es heute: Der neue Krieg, postmoderner Krieg, globaler Krieg, immanenter Krieg...
Gemeint sind weiterhin Kämpfe zwischen unterschiedlichen Interessengruppen, die sich über den Grad ihrer Intensität und Ausdehnung definieren, im Gegensatz zu früher aber der Regulierung der bestehenden Machtverhältnisse und nicht deren Zerstörung oder Erneuerung dienen. Krieg ist "konstituierende Form einer neuen Ordnung" (Negri/Alliez), die kein Innen und kein Außen mehr kennt, Leben nicht nur zerstört, sondern auch hervorbringt. In dieser neuen Weltordnung ist kein Unterschied mehr zwischen Krieg und Nicht-Krieg festzustellen: Der Krieg ist immer und überall.
Wie so vieles ist also auch der Krieg einer Deregulierung unterworfen, die alte Sicherheiten und Gewissheiten radikal in Frage stellt. Das WÖRTERBUCH DES KRIEGES soll sich dem Krieg entgegenstellen und gleichzeitig dazu aufrufen, von einem Krieg der Wörter zu desertieren, in dem Fakten mit einem enormen Aufwand an Kommunikation und Propaganda so hergestellt werden, dass sie anschließend nicht mehr in Frage gestellt werden können.
Ziel des WÖRTERBUCHS DES KRIEGES ist es, die Neubildung oder Umdeutung von Begriffen transparent zu machen als mehr oder weniger offene Prozesse, in die durchaus zu intervenieren ist; gleichzeitig sollen Modelle entwickelt werden, die die Bildung von Begriffen auf der Grundlage nicht interdisziplinärer, sondern undisziplinierter, nicht kooperativer, sondern kollaborativer Prozesse neu bestimmen.
"Begriffe erschaffen heißt zumindest, etwas tun." Die Idee des WÖRTERBUCH DES KRIEGES bezieht sich zunächst auf die von Deleuze und Guattari vorgeschlagene Theorie der Begriffsbildung: Begriffe müssen erfunden, erschaffen, hergestellt werden; Begriffe verweisen auf Probleme, ohne die sie keinen Sinn hätten. Es geht nicht um Definitionen, Anekdoten, originelle Meinungen oder Unterhaltsames, sondern darum, die Werkzeuge zu entwickeln, mit denen zu neuen Gedanken zu gelangen ist.
Die Begriffe werden gebildet von Begriffspersonen, die nicht identisch mit dem Autoren-, Philosophen-, Künstler-Ich sind, sondern von einer darunter- oder danebenliegenden dritten Person zeugen. Nach Deleuze und Guattari "tut man nicht etwas, indem man es ausspricht, sondern man macht die Bewegung, indem man sie denkt, vermittels einer Begriffsperson."
Das WÖRTERBUCH DES KRIEGES ist kein Buch im eigentlichen Sinne. Es geht nicht um Texte, Abgabetermine und Redaktionen, sondern um Performativität. Die Begriffe werden in alphabetischer Reihung von ihren Begriffspersonen in 20-minütigen Präsentationen gebildet.
Hinsichtlich der Formate gibt es keine Einschränkungen: Das WÖRTERBUCH DES KRIEGES wird aus Vorträgen, Choreographien, Filmen, Slideshows, Lesungen oder was auch immer Autoren, Akteuren, Organisatoren und Begriffspersonen beliebt, zusammengesetzt werden.
Schließlich ist das WÖRTERBUCH DES KRIEGES womöglich selbst eine Art Kriegsmaschine: Die Begriffe sollen nicht als Kontrollmittel eingesetzt werden, die Bedeutungen regulieren, sondern Entwicklungen und Prozesse aktivieren, Ereignisse evozieren: "Die Sprache an sich reißen, und etwas Unverständliches zur Welt bringen" (Kleist)...
Das WÖRTERBUCH DES KRIEGES besteht aus einem stringenten Konzept auf drei Ebenen:
1. Performance / Vortrag
• Jeder Begriff wird in 20 Minuten präsentiert, die Begriffspersonen können über diesen Zeitraum souverän verfügen. Pro Veranstaltung werden so mindestens 25 Begriffe gebildet.
• Die Formulierung und Auswahl des jeweiligen Begriffes, die inhaltliche Bestimmung, sowie die Entscheidung über das Format und die Art des Vortrages obliegt der eingeladenen Begriffsperson.
• Die Begriffe werden an zwei Tagen in jeweils etwa siebenstündigen Sitzungen in alphabetischer Reihung präsentiert.
• Das Bühnenbild ist den jeweiligen räumlichen Gegebenheiten angepasst, beruht aber auf einem zu erarbeitenden Konzept, das auf einigen wenigen wiederkehrenden Elementen basiert, die von der jeweiligen Begriffsperson im Rahmen der zur Verfügung stehenden Zeit arrangiert werden können
• Die jeweiligen Begriffe und Begriffspersonen werden von einem Sprecher aus dem OFF angekündigt. Der Vortragende wird von einem Moderator oder einer Moderatorin auf die Bühne begleitet, die während des gesamten Zeitraums für Hilfestellungen, zum Beispiel in technischer Hinsicht, bereit stehen.
2. Dokumentation
• Alle Begriffsbildungen werden vollständig dokumentiert. Hierzu stehen über den vollen Zeitraum der Veranstaltungen zwei Videokameras, Bild- und Tonregie zur Verfügung.
• Ziel der Dokumentation besteht darin, die Vorträge auch über die eigentliche Veranstaltung hinaus im Internet zur Verfügung zu stellen und nachvollziehbar zu machen. Hier geht es ausdrücklich nicht um eigenständige künstlerische Beiträge. Solche können jedoch als Anhänge oder weiterführendes Material durchaus zusätzlich bereitgestellt werden.
• Sofern möglich werden die Begriffspersonen gebeten ihr Manuskript zur Verfügung zu stellen. Ebenso kann zusätzliches Material in der Dokumentation berücksichtigt werden, das über den 20-Minuten Zeitrahmen hinausgeht.
• Die Videomitschnitte der Präsentationen werden kurz nach den Veranstaltungen im Web unter einer Creative Commons Lizenz veröffentlicht. Sie stehen somit als Material grundsätzlich für weitere Bearbeitungen, Kommentare und Diskussionen zur Verfügung, natürlich nicht ohne auf Originalbeitrag und Autor zu verweisen.
3. Publikation
• Nach den vier Veranstaltungen des WÖRTERBUCH DES KRIEGES wird im Merve-Verlag, Berlin, tatsächlich ein Buch erscheinen, das die 100 gebildeten Begriffe, ggf in vom Autor entsprechend adaptierter Form, auch gedruckt zugänglich macht.
Eine Ko-Produktion mit dem steirischen herbst 2006
Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes