Konfliktdesign: Architektur zwischen Krieg und Frieden
Was haben Architektur und Konflikt miteinander zu tun? Auf den ersten Blick wenig. Denn wenn es eine Profession gibt, die ihren Tunnelblick auf den inneren Frieden hin ausgerichtet hat, dann ist es die der Architekten. Bereits der Urhüttenmythos, von Vitruv überliefert, berichtet vom Sicherheitswunsch: „Einstmals schüttelte irgendwo Sturm und Ungewitter die dicht stehenden Bäume so sehr, und rieb ihre Zweige so hart an einander, daß sie in Brand geriethen. Erschreckt von der Heftigkeit der Flamme, entflohen erst die Bewohner der Gegend. Nachher, als des Feuers Ungestüm nachgelassen, naheten sie sich demselben [...]. [S]o fingen sie an, die Einen aus Laube Obdächer zu machen, die Anderen Höhlen unter Bergen zu graben, und noch andere, in Nachahmung der Schwalben in dem Baue ihrer Nester, aus Lehm oder Reisern Hütten zu ihrer Wohnung zu verfertigen.“
Auf den zweiten Blick sieht die Sache schon anders aus: Der innere Frieden, den Architekten gemeinhin im Visier haben, stellt sich nur dann ein, wenn Kriege bewußt und erfolgreich hinter sich gebracht wurden. Oder wenn man es sich leisten kann, Kriegsführungen kulturell zu ignorieren. Letzteren Luxus könnte man auch als „die Moderne“ bezeichnen. Komfortabel war sie, aber sie hatte auch ihre Schwachstellen. Denn: Krieg und Blindheit für Krieg im Innern eines Krieg führenden Systems verstärken einander. Keine noch so gutmeinende Architekturtheorie und -praxis sollte es daher riskieren, militärische und strategische Überlegungen zu ignorieren.
Decorum und Triumph
Vitruvs vorzeitlicher Wetterbericht war noch vom Dampf seiner Kriegskompetenz erfüllt. Unter Cäsar diente er im römischen Heer und baute Belagerungsmaschinen. Seine Zehn Bücher über die Baukunst – Augustus gewidmet – warten nicht nur mit Empfehlungen für die Errichtung von Stadtmauern auf, sondern sind auch gespickt mit Bauanleitungen für Katapulte, Skorpione und Ballisten. Der Krieg war für antike Architekten generell nicht fern. Er war gewissermaßen vor der Tür, und noch der Schmuck der Prachtarchitekturen erinnert an ihn. Das decorum markiert die Relaxationsphase, die auf den Kriegsstress folgte: Dem Feldherrn, der seine Population in den Sieg führte, wurde entlang der via regia ein Triumphzug bereitet. Die Insignien des Kriegserfolges – Lorbeerblätter etc. – erfuhren über kurz oder lang einen Stoffwechsel und wurden zu steinernem Schmuck. Ein Kodifizierungssystem bildet das decorum insofern, als es die beiden Pole „erhaben“ und „niedrig“ entwickelte: „Erhabener Inhalt ist alles Verhalten, das sich auf Krieg, Ehre, altruistische Todesbereitschaft und strategische Gefahr bezieht.“ Je wichtiger die Bauaufgabe (Tempel...), desto mehr galt es, den Kriegserfolg durch reichhaltigen Schmuck zu kommunizieren; je unwichtiger die Bauaufgabe (Handwerker-Wohnhaus...), desto irrelevanter war die poststressale Kriegsanspielung des decorum.
Die Verbindlichkeit des decorum galt noch bis weit ins 17. und 18. Jahrhundert. In diese Zeit fällt ein Ereignis, das überraschen mag: die Geburt des Menschen. Genauer: die Geburt des beobachteten Menschen – beobachtet nicht etwa, um ihn zu töten, sondern um das Leben, die Körperfunktionen, den Wahrnehmungsapparat zu erforschen. Dass Claude Perrault, der erste wichtige Relativierer einer normativen Klassik im Geiste Vitruvs, ein gelernter Physiologe war, ist kein Zufall. Entschieden wandte er sich gegen die von François Blondel erhobene These, dass bestimmte Proportionsverhältnisse a priori schön seien. Stattdessen erklärte er, dass sie allein aus dem Grunde angenehm sind, weil man sich an sie gewöhnt habe. Damit proklamierte er die Relativität des ästhetischen Urteils. Als das „gewisse Etwas“ jenseits ewiger Regeln fungierte bei Perrault die optische Korrektur. Während Blondel den Fortschritt der Naturwissenschaften heranzog, um zu zeigen, dass sich durch ständiges Messen und Beobachten immer genauere Gesetze ableiten lassen, sah sein Widersacher einen Zusammenhang zwischen dem Fortschritt der Naturwissenschaften und ihrer Befreiung vom Autoritätsdenken. Mit dieser Auffassung dementierte er die Jahrhunderte lang gängige Vorstellung vom ewigen, nicht zu übertreffenden Glanz der Antike. Und die Schleusen des guten und schlechten Geschmacks waren geöffnet.
Ästhetik und Front
Das Wiege des wahrnehmend beobachteten Menschen wurde von einer Front gesichert, die in großer Entfernung einen Sicherheitsraum umschloss. Nur inmitten einer flächendeckenden territorialen Pazifizierung, wie sie die Bildung moderner Staatlichkeit mit sich brachte, konnte im 17. Jahrhundert der Geschmack, konnte im 18. Jahrhundert die Ästhetik als eigenständige philosophische Disziplin entstehen. Der Grund, weshalb sich die Grenzen als potentielle
Demarkationslininen zwischen Krieg und Frieden nach und nach ins Abseits verzogen, liegt auf der Hand: militärische Überlegenheit. Sie gründete auf Professionalisierung. Der Westfälische Friede 1648 markiert hierbei die Epochenschwelle: Die Stehenden Heere, für den Dreissigjährigen Krieg ausgehoben, blieben stehen. Auch die Architektur wurde zunehmend Profisache: Bereits im Laufe des 16. Jahrhunderts war das Festungsbauwesen zu einem Sonderfach geworden, und seit dem frühen 17. Jahrhundert lassen sich zunehmend Unterschiede feststellen zwischen dem Ingenieur, der für die architectura militaris zuständig ist, und dem Architekten, der sich ganz der architectura civilis widmete. Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein wurden zwar „beide Architekturen“ meist von einem Baumeister und Ingenieur in Personalunion verantwortet, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die vormoderne Sphäre der Kriegskultur sich in eine des Militärs und eine der Kultur teilte. Die überragende Kriegsfitness war es also, die das decorum zum Verschwinden brachte. „Das Gesicht der kulturellen Macht, die diese Hybris ermöglicht, ist nicht das Gesicht des triumphierenden Kriegers, sondern das Gesicht des unschuldigen Künstlers und Philosophen. Die Kultur, die alles unterworfen hat, ist in ihrem Inneren unschuldig und ahnungslos.“
Das decorum repräsentiert den eingestandenen Krieg. In der Moderne hingegen blieb der Krieg kulturell uneingestanden, und in ihrem Inneren brach sich eine risikofreudige Unsicherheitsorientierung Bahn. Anders als bei der Gefahr, die mit abergläubischen Sicherungsstrategien einhergeht, ist beim Risiko eine kalkulierende Einstellung gegenüber der Unsicherheit festzustellen. Wer etwas riskiert, für den ist die Zukunft keine bloße Reproduktion einer kosmologischen Ordnung, sondern: Die Zukunft muss als Ergebnis des eigenen Handelns erscheinen. Die decorum-Regeleinstellung war die positive Stressbewertung einer Population, die die eigenen Krieger willkommen hieß. Sie war dem Eingang verpflichtet. Das Innen war sicher, das Außen unsicher. Anders die Moderne: Sie war dem Aufbruch verpflichtet – mit ganz eigenen Regeleinstellungen: Normen, Baurichtlinien, Fluchtwegkodifizierungen, maximalen Korridorlängen. Freilich geht ihnen die Glücksemphase des Heimkommes ab – und fast alle weisen das befriedete Außen als Sicherheitsraum aus...
Architektur und pervasiver Krieg
Kein moderner Mensch kann sich in eine Zeit zurückversetzen, in der die beiden Begriffe Krieg und Glück sich einer trauten Zweisamkeit erfreuten. Das seltsame Paar wurde erst mit der Verstaatlichung des Krieges geschieden. Indem der Staat das System der Selbstausrüstung und DIY-Versorgung der Soldaten beendete, die ernstfalltauglichen Waffen monopolisierte und ein geordnetes Versorgungswesen aufbaute, brachte er das Kriegswesen unter seine Kontrolle: „Zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert ist der Staat in Europa zum Monopolisten der legitimen physischen Gewaltsamkeit geworden. Der Territorialstaat garantierte im Inneren Frieden und beanspruchte für sich das ausschliessliche Recht der Kriegserklärung; dies gelang ihm durch die Kunst der Trennung zwischen Innen und Außen, Freund und Feind, Krieg und Frieden usw.“ Damit einher ging die Entwicklung eines Rechtsbegriffs, der die Feindschaft auschloss. Auf diese Weise war es dem Staat gelungen, die mittelalterlichen Fehden zu beseitigen und konfessionellen Bürgerkriegen ein Ende zu bereiten.
Doch gerade die militärisch besonders erfolgreichen Staaten – also jene, die ihre Territorien so weit zu dehnen verstanden, dass Reiche entstanden –, mussten mühsam lernen, mit kriegerischen Akten jenseits der Differenz von Innen und Außen umzugehen. Staaten haben harte und Reiche weiche Grenzen. In den diffusen Grenzterritorien westlicher Reiche erblickte um 1800 der jüngere und robustere Bruder des friedlich dreinblickenden Ästhetikers das Licht der Welt: der Partisan. Mit seinem „guerilla“ genannten kleinen Krieg dementierte er die Übersichtlichkeiten des großen Staatenkriegs: Innen und Außen, vorne und hinten, Anfang und Ende. „Der große Krieg kennt Etappe und Front; der kleine Krieg bringt alle diese Begrenzungen zum Verschwinden: Er ist ubiquitär und permanent.“ Als Kampf der Schwachen verwandelt der Partisanenkrieg die Tiefe des Raumes und die Dauer der Zeit in Ressourcen der Kriegführung. Im Zustand permanenter Bellingerenz erfand er den „pervasiven“, also durchdringenden Kampf.
Die Pervasivität des Kleinkriegs – ob paranoisch konstruiert oder nicht – ist im 21. Jahrhundert von einer Marginalie überdehnter Imperien zum main act politischer Selbstvergewisserung geworden. Im Zuge dessen betrat der Terrorist die weltpolitische Bühne. Im Unterschied zum Partisanen, der auf heimatlichem Boden agiert, verlässt der Terrorist sein gefühltes Zuhause und bringt die Gefahr „zurück“ in die Hauptstädte postkolonialer Staaten. Damit hat sich der westliche Alltag – vor allem der städtische – zu einem angstbesetzten Schauplatz eines asymmetrischen Kampfes entwickelt. Als herrschendes Paradigma des Regierens gilt seither der „Ausnahmezustand“, mit dem die Grenzen zwischen Militär und Polizei fliessend geworden sind.
Die Architektur wird immer von kriegerischen Akten beeinflusst – ob bewusst oder nicht. Wenn das vormoderne decorum einen sicheren Fluchtpunkt im Innen auswies und wenn die modernen Baurichtlinien den pazifizierten Außenraum als Wellnesszone begriffen, dann stellt sich die Frage nach den Relaxationsstellen in Zeiten von omnipräsent wahrgenommenen Bedrohungen. Es ist anzunehmen, dass pervasive Stressoren pervasive Schutzräume erzeugen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass nur die Bewegung als sicher gilt, die Bewegung ohne Fluchtpunkt. Der Gedanke des pervasiven Schutzraumes rüttelt an den vermeintlichen Grundfesten der Architektur: jener der Differenz von Innen und Außen. Zum Kristallisationspunkt eines solchen pervasiven Schutzraumes könnte das Gadget werden. Dieser Begriff leitet sich vermutlich aus dem französischen gâchette (Schnapphahn eines Schlosses oder Riegels) ab. Womöglich wird das Gadget, gekoppelt an das pervasive game des Terrors und des war on terror, zum Schlüsselelement, zum fetischartigen Relaxationsgaranten einer „pervasiven Architektur“. Der Fetischismus, als Begriff seit dem späten 18. Jahrhundert geläufig, ist schon immer aufs engste mit der Kolonialgeschichte der westlichen Kultur verknüpft gewesen. Er mauserte sich zu einem zivilen Objektdiskurs, in dem sich militärische Aggressivität auf geradezu anamorphotische Weise verzerrt.
Janustempel revisited: 5 Codes: Space of Conflict (2008)
Mit der Pervasivität des Krieges sind zwei Grundbinaritäten des Denkens abhanden gekommen: jene von Innen und Außen und jene von Krieg und Frieden. „Militärische Auseinandersetzungen“, „grenzüberschreitende Anwendungen von Gewalt“, „Operationen“ haben mittlerweile überhand genommen. Und vor allem: Konflikte. Es gibt keinen Frieden, der als wirksamer Gegenbegriff zum Krieg noch taugte. „Derartige begriffliche Beben kündigen epochale Verschiebungen nicht nur seismographisch an, sondern es ist die Veränderung in der Selbstbeschreibung, die Epoche macht.“ Thomas Hobbes definierte einstmals im Leviathan: „Die Zeit aber, in der kein Krieg herrscht, heißt Frieden.“ Auch Carl von Clausewitz konnte in seinem Werk guten Gewissens schreiben, dass der Zweck des Krieges der Frieden sei, und wenn dieser erreicht sei, dann ende "das Geschäft des Krieges". Doch die zahlreichen Nicht-Kriege der Gegenwart machen übersichtlicheren Zeiten nun ein Ende.
Für alle Graduationen zwischen Krieg und Frieden hat das US-Department of Homeland Security nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ein fünffarbiges Terrorwarnsystem entwickelt: grün, blau, gelb, orange, rot – genannt 5 Codes. Zwischen Krieg (Code Red) und Friede (Code Green): ein buntes Spektrum der Angst. Das Bild stellt eine suggestive Ikone des Ausnahmezustands dar. Die beiden Pole rot und grün entsprechen dabei der decorum-Skala „erhaben / niedrig“. Im Anschluss an den konstatierten Nexus von Fetischismus und pervasivem Kampf ist es mehr als naheliegend zu fragen: „Kann es Yellow-Präferenzen und Yellow-Produkte geben? Kann es Blue-, Orange- und Green-Produkte geben? Kann es die Deklination der Präferenzen in den Bereichen Automobil, Ernährung, Flanierverhalten, Entertainment, Wohnen, Mode und Game geben?“
Im Sommer 2008 wird in Washington D.C. – in zeitlicher und räumlicher Nähe zum US-Präsidentschaftswahlkampf – ein 5 Codes: Space of Conflict errichtet. Der Raum ist ein postmoderner Widergänger des legendären römischen Janustempels. Dessen Türen waren geschlossen, wenn Friede im Imperium Romanum herrschte, und sie standen offen, wenn sich Rom im Krieg befand. „Im Januskult verfügten die Römer über ein kulturelles Symbol, das die kulturgefährdende Singularität des Krieges griffig formulierte und sowohl den Kriegsbeginn als auch das Ende des Krieges in dem wachsenden Imperium rituell und mental handhabbar hielt.“ Augustus rühmte sich einmal ausdrücklich, dass unter seiner Herrschaft die Tore dreimal zugesperrt wurden. Auch die optimistischsten Prognostiker schliessen derlei für das amerikanische Empire auf lange Sicht aus. Jenseits der Kategorien von Innen und Außen, jenseits von Krieg und Frieden, ist der 5 Codes: Space of Conflict vor allem eines: ein experimentelles Warenhaus, das sich mit seinen von „grün“ bis „rot“ gerankten Produkten einer notwendigen Debatte über Politik, Ökonomie, Strategie und Design öffnet.